...wie fängt man an seine Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen, wenn man noch ganz aufgewühlt das frisch gelesene Buch in den Händen hält? Am besten konzentriert man sich auf das, was am hervorsticht: Ein Lobgesang, gepaart mit ein wenig Enttäuschung.
Stephen King hat es im Laufe seiner Schreibkarriere perfektioniert seinen Charakteren Leben einzuhauchen. Die Helden seiner Geschichten sind authentisch, warmherzig und trotz ihrer Fehler es wert ins Herz geschlossen zu werden. So auch hier der 17 Jährige Charlie. Gleich zu Beginn baut man eine enge Bindung auf - der gute Junge erzählt uns von seinen harten Jahren in der Kindheit: Mutter früh verstorben, Vater dem Alkohol verfallen... Das hat Charlie natürlich geprägt und genau genommen auf seinen Weg zu dieser fantastischen Geschichte geführt. Denn wären diese harten Jahre nicht gewesen, wäre Charlie nicht zu einem gewissenhaften jungen Mann herangewachsen und hätte es sich nicht zur Aufgabe gemacht einem alten Herren aus der Nachbarschaft zu helfen. Dies alles führt ihn in ein Märchen, bei dem Gut gegen Böse sich bis aufs Blut bekämpfen und Charlie eine enorme Rolle spielt - aber das kommt erst später. Zunächst die harten Jahre und die schicksalshafte Begegnung mit Mr. Bowditch und seinem Hund.. Herzzerreißend! Absolut herzzerreißend! Ich war hier sofort mitten drin, fühlte mit, bekam große Augen bei all der Güte und dem treuen Herzen! Wundervoll und liebenswert! Die eigentliche Geschichte - der Teil, in dem Charlie sich auf in eine andere Welt macht um etwas Böses zu besiegen - beginnt erst nach ca 300 Seiten. Man sieht, King hat sich so viel Zeit mit seiner Einleitung gelassen, dass daraus locker ein eigenes kleines Buch hätte entstehen können. Was mich übrigens nicht gestört hätte. Nicht eine Seite zu viel, dafür voller Leben, Liebe, Drama, Coming-of-age. DAS war ein Highlight!
...doch wer hoch steigt, fällt tief.. Nicht, dass mir "Fairy Tale" nicht gefallen hätte. ☝🏻 Ich ging gerne mit auf diese Reise, erlebte allerhand Märchenhaftes und bewunderte Charlie für seinen Mut. ...doch überraschte mich hier nichts wirklich. Irgendwie war der Ablauf klar (Feinheiten ausgenommen. Ich meine den groben Aufbau). Und mir wurde während des Lesens klar, dass Stephen King quasi in fast jedem seiner Bücher eine kleine Märchenwelt hat entstehen lassen.
Ich fühlte mich an "Der Talisman" bzw. auch an dessen Fortsetzung "Der schwarze Haus" erinnert. Der Grundplot ist ja auch nicht unähnlich: Ein Junge (diesmal nur ein paar Jahre älter) mit starker Bürde macht sich auf um seine Lieben zu retten. Beim Talisman wurde eine andere Welt geflippt, hier gibt es eine Art Kaninchenbau (wobei er nicht so betitelt wird - das ist auf meinem fantastischen Mist gewachsen). Und erzählt nicht auch "Es" etwas ähnliches? Kinder, die sich ihren Ängsten stellen und mit einem übersinnlichen Bösewicht konfrontieren werden? Ist in "Der Anschlag" nicht auch ein magischer Punkt zu finden (wenn ich mich recht entsinne, dort tatsächlich als "Kaninchenbau" bezeichnet.)? "Sleeping Beauties"? "Das Bild"? In "Die Augen des Drachen" wurden uns sogar Königreiche und Festungen beschert. And so on. Allesamt tolle Geschichten (mal mehr, mal weniger). Und alle ein Märchen für sich. Daher rückte für mich das "Märchenhafte" etwas in den Hintergrund. Auch findet man nebst der Fantastik Ansätze, die man aus vielen anderen king'schen Stories kennt: Alkoholismus, Gefühle eines Heranwachsenden, Liebe zu Tieren. Die Story ansich ist etwas eigenes und liebevoll gestaltetes. Aber gewohnt. Ein typischer King. Das ist Fluch und Segen gleichermaßen.
Man sieht: Für mich, als Kennerin so einiger King-Werke ist dieses Märchen ein bisschen Bekanntes neu verpackt. Wer aber noch nicht so belesen ist, der wird hier ein wahres Wunderland an Kuriositäten voller Querverweise. Liebevoll gestaltet, eindrucksvoll inszeniert und fesselnd geschrieben - eine unglaubliche Reise in magische Welten mit einem unbarmherzigen Kampf von Gut und Böse.
Ich blicke mit gemischten Gefühlen auf "Fairy Tale" hinab. 880 Seiten gehen natürlich nicht spurlos an einem vorbei.. Aber dieses Buch wird sich mir nicht so ins Herz graben, wie "Billy Summers" es geschafft hat.
Für Fans ein Muss, das gibt es keine Diskussion. Auch für Neulinge, die mit Kings Stil schon vertraut sind und ihn zu schätzen wissen, dürfte das eine tolle Lektüre sein. Für "gelegentlich mal was von King"-Leser rate ich, sich ein anderes Werk vorzunehmen.