Kundenrezension aus Deutschland 🇩🇪 am 5. Februar 2022
Auch wenn es normalerweise keine Aussagekraft hat, so deutet schon die kunstvolle Gestaltung des Einbandes und die Zusammenfassung auf dem Buchrücken an, dass sich King einmal mehr von seinen klassischen Horrorwurzeln entfernt und uns eine Geschichte präsentiert, die man gar nicht so richtig in ein Genre pressen kann.
Im Zentrum steht der Protagonist Billy Summers, der als Auftragskiller kurz vor seinem letzten und außerordentlich gut bezahlten Job steht. Ein Straftäter soll nach der Überführung in einen anderen Bundesstaat noch vor Betreten des Gerichtsgebäudes eliminiert werden. Eigentlich eine Routineaufgabe für Billy, doch die Rahmenbedingungen sind anders als gewohnt und führen letztendlich zu dem, was wir als Leser miterleben dürfen.
Ich halte mich bewusst vage in der Inhaltsangabe, denn die Wirkung der unvorhersehbaren Handlung entfaltet sich am besten mit der Unkenntnis des Lesers. In der Gegenwartsform geschrieben, erlebt man den Alltag eines Profikillers, der sich unter der falschen Identität eines Schriftstellers in eine unvertraute Umgebung einlebt, die Lage sondiert, Pläne schmiedet und vor allem die Wartezeit totschlägt.
Einen Großteil davon widmet er einem Buch, das er zum Schein schreiben soll und das sich im weitern Verlauf zu einer Aufarbeitung seines schicksalhaften Lebens entwickelt, angefangen von einer brutal beendeten Kindheit bis zu seinen traumatisierenden Kriegseinsatz in Afghanistan.
Zeitgleich freundet er sich mit seinen neuen Nachbaren und deren Kindern an und baut sich dadurch ein echtes soziales Leben unter falschem Namen auf, eine emotionale Bindung, die den eigentlichen Zweck immer stärker gefährdet, je länger Billy diese Rolle spielen muss.
Alls das ist aber bei weitem nicht alles, sondern nur ein Teil des Gesamtwerks. Im Grunde kann man das Werk grob in vier Teile einordnen: der Auftrag, das was danach folgt und wiederum die Folgen dessen bilden den Handlungsstrang und parallel erfahren wird durch die Schreibtätigkeit, deren Ergebnis wir als Buch im Buch in kleinen happen präsentiert bekommen, über Billys Vergangenheit.
All die Zutaten sind natürlich nicht neu. Der Killer, der seinen Auftrag gefährdet, indem er sich auf Menschen einlässt, erinnerte mich natürlich direkt an Luc Bessons filmisches Meisterwerk "Léon". Bei der Struktur und dem Stil des Buches kam mir Stephen Kings Atlantis in den Sinn und das Buch im Buch hatten wir ebenfalls schon, etwa in "Sie" (bzw. Misery).
Das Ergebnis all dieser Bestandteile ist eine Mischung aus Thriller, Drama und Charakterstudie. Wir gehen mit einem Killer mit, der zum Menschen wird und erleben dabei, wie ausgerechnet diese Wandlung zu noch mehr Blutvergießen führt. Man darf sich moralische Fragen stellen, ab wann man eigentlich ein schlechter Mensch ist und ob es tatsächlich immer Gut und Böse gibt und auch wenn so mancher Antagonist in diesem Werk eindeutig klassifiziert wird, so findet King auch dafür die richtigen Worte, gewisse Untaten erklärbar zu machen.
Die oberflächliche Killergeschichte entpuppt sich jedenfalls schnell zu einer tiefreichenden Reise in die Gefühlswelt eines Menschen, der sein Leben lang Befehle befolgt und Rollen gespielt hat und sich nun selber entdeckt.
Für die Erwartungshaltung ist wichtig, dass - typisch für den Autor - ein langsames Tempo angesetzt wird. Ich war immer schon der Auffassung, dass King selten komplexe Geschichten schreibt, sondern Charaktere. Das wird auch hier wieder deutlich. Die Spannung entsteht durch die Unvorhersehbarkeit oder das Gefühl des Hauptakteurs, dass ihm die Kontrolle entrissen wird. Dennoch läuft es nicht auf eine große finale Eskalation hinaus, sondern auf eine lange Reise voller kleiner Blutspuren bis hin zum logischen Ende mit einem gelungenen stilistischen Einfall, auf den ich nicht näher eingehe. Das muss man selbst erleben.
Die Fans alter Tage werden vielleicht wieder um ihren alten King trauern, der erneut kein "The Stand" oder "Es" geschrieben hat, doch für mich war es purer Genuss, in diese Welt einzutauchen und mit Billy seine verzwickte Lage zu durchleben. Und einen kleinen Fanservice in Form der Bezugnahme auf ein anderes berühmtes Werk des Autoren gibt es dann doch noch. Irgendwie passend.
Billy Summers reiht sich irgendwo bei "Der Anschlag" und den "Bill Hodges" Romanen ein und belegt bei mir persönlich einen hohen Rang. Ich wusste nicht, was mich erwarten würde und was ich bekommen habe, hat geschmeckt.