Am höchsten bewertete positive Rezension
5,0 von 5 SternenSehr gut gelungen
Kundenrezension aus Deutschland 🇩🇪 am 26. Oktober 2022
Hannah Herbst ist mit einem sehr erfolgreichen Künstler namens Richard verheiratet, mit dem sie gemeinsam einen Sohn hat. Paul. Richard, Hannah, Paul und Kyra - Richards Tochter aus erster Ehe - leben gemeinsam im Berliner Stadtteil Moabit.
Hannah arbeitet ungeheuer viel, denn sie hat eine Gabe: sie kann aus kleinsten Details der Mimik, die nur wenige Millisekunden wahrnehmbar sind (Mikroexpressionen) auf die Emotionen ihres Gegenübers schließen und damit auch den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen beurteilen. Zugespitzt gesagt ist Hannah eine Art wandelnder Lügendetektor und damit natürlich ausgesprochen nützlich für die Polizei, der sie dementsprechend auch fleißig bei ihrer Arbeit hilft. Bei dieser Tätigkeit hat sie ihre gute Freundin Telda kennen gelernt, die in der Rechtsmedizin als Assistentin tätig ist. Aus enger Zusammenarbeit ist ebenfalls eine Freundschaft zum Kriminalpolizisten Fadil Matar entstanden, dessen Frau Simone schwer an Krebs erkrankt ist.
Eines Tages wird Hannah entführt. Wie sich herausstellt ist ihr Entführer der berüchtigte "Chirurg", ein Hochstapler, der sich als Chirurg ausgibt, nie Medizin studiert hat, geschweige denn einen chirurgischen Facharzttitel hat, dennoch OPs durchgeführt hat und deswegen im Gefängnis saß, von wo aus er ausgebrochen ist. Er wirft Hannah vor, sie mehrere Morde begangen und legt ihr sogar ein Beweisvideo vor, das eigentlich kaum Widerspruch zulässt.
Sebastian Fitzek äußerte bei einem öffentlichen Auftritt einmal, dass er so viel Stoff gesammelt hätte, dass es ihm so schnell nicht passieren könne, dass er nicht mehr wisse, worüber er schreiben solle. Dieses Mal bringt er seine Faszination für den Mimikresonanzexperten Dirk Eilert zum Ausdruck, der RichterInnen und PolizistInnen bei der Beurteilung von Zeugenaussagen und ähnlichem berät und genau zu diesem Thema auch geforscht hat. Dies bietet die Grundlage für "Mimik", ein Fitzek-Thriller, der wie üblich mit einem Trommelfeuer beginnt. Etwa die ersten 5 Kapitel bestehen aus sich überschlagenden Ereignissen, denen es nicht an psychischer und physischer Brutalität mangelt.
Doch insgesamt habe ich "Mimik" als anders und jenseits des typischen ADHS-Erzählstils Fitzek'scher Prägung erlebt. Das Tempo ist eine Spur niedriger, ebenso der Brutalitätsfaktor. Auch dass es sich um eine Aneinanderreihung komplett unwahrscheinlicher Extremereignisse handelt, hielte ich zumindest für eine Übertreibung. Sicher gibt es bodenständigere, alltäglichere Krimis, aber gemessen an dem, was der Erfolgsautor ansonsten auf den Markt gebracht hat, empfinde ich "Mimik", vielleicht nicht gerade als harmlos, aber eben doch etwas zurückgenommener. Natürlich gibt es ein Finale furioso, in dem alles noch mal umgekrempelt wird. Aber diesen Hyperstress beim Lesen, den ich sonst manchmal empfunden habe, löste dieses Buch bei mir nicht aus.
Ist es also langweilig? Nein, ich möchte fast sagen, es ist lesbarer als so manch anderer Fitzek-Roman und hätte ich es an einem Wochenendtag und nicht an einem Arbeitstag bekommen oder wäre ich bereit gewesen, bis 1 Uhr wach zu bleiben, hätte ich es mehr oder minder in einem Zug durchgelesen.
Denn weiterhin gilt: Fitzek kann schreiben! Nicht so, dass man damit viele Literaturpreise außerhalb des Genres gewinnen kann (die Landauer Poetik-Dozentur sollte man allerdings auch nicht unterschlagen), aber so, dass man es wunderbar flüssig lesen kann. Er versteht es Spannung aufzubauen und aufrecht zu erhalten und neuerdings vielleicht sogar ein wenig auch kleinere Ruhepausen einzubauen.
Welche Schwächen hat dieser Roman? Es gibt aus meiner Sicht immer mal wieder Situationen, in denen ich von Hannahs Mimikresonanzkönnen deutlich mehr erwartet hätte und es gibt natürlich einige, in denen es mir etwas fragwürdig erschien, dass das so tatsächlich funktionieren kann. Aber völlig an den Haaren herbeigezogen erscheint es mir nicht zwingend. Manch einer mag wohl eine gewisse Unfehlbarkeit erwarten, aber ich denke, gerade darin, dass Hannah nicht immer alles korrekt deutet und bemerkt liegt gerade eher das realistische als in einem konsistenten Durchziehen perfekter Einschätzungen. Und dennoch habe ich mich gefragt, warum Hannah die Hinterfragenswürdigkeit einer Person nicht früher bemerkt hat und mir tatsächlich gedacht: das kommt mir seltsam vor.
Ich bin weder Polizist noch irgendwie kriminalistisch gebildet, erfahren oder bewandert (Krimis lesen und im Fernsehen angucken jetzt mal nicht als Qualifikation gewertet), aber mir erscheint der gewählte polizeitaktische Ansatz schlichtweg verrückt.
Über den Schluss und die Auflösung kann man tatsächlich streiten, aber das gilt letztlich für das ganze Genre, zu dem es einfach gehört, dass es zigfach hin und her geht. Ich fand den Schluss gelungen und muss insgesamt sagen: "Mimik" ist Sebastian Fitzek sehr gut gelungen.
[In memoriam HFK - RiP]