Am höchsten bewertete kritische Rezension
3,0 von 5 SternenErste Hälfte super - zweite Hälfte zum Haare raufen (Achtung, enthält Spoiler!)
Kundenrezension aus Deutschland 🇩🇪 am 17. Oktober 2022
"Ich sehe hier den roten Faden einfach nicht"
Ich leider auch nicht!
Hab's vorhin zu Ende gelesen und bin dann ziemlich schnell zu einer 3-Sterne-Bewertung gelangt.
In dem Kriminalroman "Einsame Nacht" aus der Kate-Linville-Serie geht es im Haupterzählstrang um Anna, die nachts auf dem Heimweg Zeugin eines Kapitalverbrechens wird. Was ist in dieser kalten Dezembernacht passiert? In einem Nebengeflecht verfolgen wir einen Jugendlichen, der unter Adipositas leidet und von seiner Umwelt gemieden wird. Wie hängen diese Fälle zusammen?
Polizeiermittlerin Kate Linville nimmt sich, mehr oder weniger unfreiwillig, des Falles an.
Ich hatte bereits Werke von Link gelesen und die ausgewählten Bücher fand ich wirklich gut gelungen. Ich hatte es mal mit der Kate-Linville-Reihe probiert, aber die Leseprobe des ersten Bandes sprach mich nicht an, weswegen ich gewartet hatte, bis sie etwas Neues rausbringt. Dann kamen aber Band 2, Band 3 und nun Band 4 und ich ahnte, dass ich da wohl nicht drumherum kommen würde. Als "Einsame Nacht" angekündigt wurde, sprach mich der Klappentext aber sofort an und ich war mir gleich sicher, dass ich es lesen würde. "Einsame Nacht" ist somit das erste Buch, dass ich aus dieser Reihe gelesen habe.
Der Einstieg in die Lektüre ist - wie oft bei Link - sehr depressiv. Aber mir gefällt das. Sie hat einen Schreibstil, der perfekt in die winterliche Jahreszeit passt, deshalb lese ich sie auch meistens ab November. Die ersten 200 - 300 Seiten sind solide, obwohl der Fall nicht besonders spannend ist. Dafür ist der Handlungsort zu öde und die Gegebenheiten zu ruhig. Die meisten Figuren sind komplexbeladen, aber das ist bei Link typisch. Sie macht, was sie am besten kann: das Innenleben von Menschen erzählen, die in der breiten Masse keinen Platz finden oder anderweitig gesellschaftlich isoliert sind. Ihre Beschreibungen sind oft etwas philosophisch angehaucht. Es ist eben doch mehr Roman als Krimi.
Kommen wir nun zu den kritischen Stellen:
Nach der ersten Hälfte fängt es an, allmählich etwas schräg zu werden und in eine Richtung zu gehen, die ich nicht mehr als glaubwürdig beschreiben würde. Ich war stellenweise irritiert und habe mich manchmal gefragt, was das denn jetzt soll.
In dieser Geschichte gibt es nur zwei Stränge, die ineinander übergehen (normalerweise gibt es viel mehr) und trotzdem hatte ich das Gefühl, dass hier vieles nicht ganz zusammenpasst. Es war ersichtlich, wie die Autorin mit Biegen und Brechen versucht hat, den roten Faden durch die Handlungsstränge zu ziehen. Ich fand die Auflösung, das Motiv und die ganze Story am Ende irgendwie unglaubwürdig und an den Haaren herbeigezogen.
Die Protagonistin Kate Linville mochte ich sehr und sie hat die Geschichte für mich auch im Nachhinein gerettet. Die anderen Figuren fand ich teilweise platt und ja schon schablonenhaft. Es ist so, als ob jede Figur irgendein Klischee darstellen sollte.
Der Fall erstreckt sich eigentlich nur über ein paar Tage und trotzdem kann keine der Figuren ihre Charakterzüge beibehalten. Will heißen: die Figuren agieren nicht immer so, wie sie beschrieben wurden. Einer der früheren Ermittler - in diesem Fall Ex-Ermittler Caleb - ist ein Alkoholiker mit bewegter Vergangenheit. Klar, was sonst. Gehört quasi zur Stellenbeschreibung. Aber auch aus Kate bin ich nicht so ganz schlau geworden. Will sie jetzt einen Partner oder nicht? Was genau will sie eigentlich? Ihre Einsamkeit, die sehr oft im Buch thematisiert wird, obwohl sie daran gewöhnt ist, einsam zu sein, ist mir auf die Nerven gegangen. Gerade, wenn im Lesefluss permanent der Eindruck erweckt wird, die Einsamkeit an Weihnachten sei aus irgendeinem Grund besonders dramatisch.
Obwohl ich Kate mag und auch gern mehr von ihr erfahren würde, ist sie leider auch nicht so ganz vor Klischees gefeit. Sie ist die typische Superwoman im Körper einer grauen Maus, die alles in letzter Sekunde kann und weiß. Sie ist schüchtern, aber superschlau und scharfsinnig. Sie ist teilweise sogar hellseherisch. Anders kann ich mir die ganzen Zufälle nicht erklären, die die Geschichte vorantreiben. Allgemein diese Klischeemakel, die dann aber mit irgendwas Anderem extrem ausgeglichen werden, haben mich irritiert: der abgestürzte Ex-Ermittler, der aber so viel Sexappeal hat, dass er jede Frau rumkriegt - und Frauen stehen ja offenbar auf sexy Versagertypen. Kate dagegen ist ziemlich unsicher, etwas unbeholfen und in sich gekehrt. Falls man jetzt denkt, wie sie denn dann als Polizistin arbeiten kann, kommt auch schon der Ausgleich: Sie ist natürlich total schlau, kann alles kombinieren und ist irgendwie sehr wichtig in ihrem Job. An anderer Stelle der forsche, unfreundliche Bootsmeister, der dann aber von einer Sekunde zur nächsten redselig wird, weil die Protagonistin im Fall ja irgendwie weiterkommen muss.
Auch in diesem Fall hätte man vieles effizienter lösen können, wenn die Figuren miteinander kommuniziert und sich allgemein realitätsnaher verhalten hätten. Ich weiß, dass in einem Kriminalroman bestimmte Richtungen so gut es geht behindert werden müssen, damit die Story nicht zu schnell aufgelöst werden kann. Sicher hätte man das klüger machen können, anstatt seine Figuren dümmliche Aktionen durchführen zu lassen, die man nicht einmal nachvollziehen kann: beispielsweise sagt die Polizeichefin niemandem, in welche Stadt sie fährt, weil es privat ist und entscheidet sich dann spontan eine Zeugenbefragung durchzuführen. Kopfschüttelt saß ich da und dachte mir: Okay, und was ist jetzt daran so schlimm, der Polizeistation zu sagen, dass man sich in einer anderen Stadt aufhält? Sie ist doch kein Ex-Sträfling.
Und, dass sich eine Chefin derart leichtsinnig verhält, die anfangs noch als selbstbewusst, vorschriftstreu, hart und unnachgiebig beschrieben wurde, passt wieder einfach nicht. Das meinte ich oben damit, dass die Charaktere nicht standhaft bleiben, sondern sich von Tag zu Tag ändern.
Anna, eine Hauptfigur im Hauptstrang, wird plötzlich eine Heulsuse und hört damit auch nicht mehr auf. Auch sie verhält sich absolut realitätsfremd. Sie hat Angst, zur Polizei zu gehen, was irgendwie gar nicht richtig nachvollziehbar ist. Aber sie hat kein Problem damit, eine 2 Meter lange Leiche von einem Abhang herunterzuschmeißen. Ich meine, Hilfe ... was lese ich da gerade?!
Kate hält sich auch nicht an Vorschriften, obwohl der Leser am Anfang damit konfrontiert wird, dass sie fast ihren Job wegen Regelüberschreitungen verloren hätte. Warum können diese Menschen nicht einfach kommunizieren oder sich realistisch verhalten?
Von der Auflösung bin ich etwas enttäuscht. Diesmal gab es keine Überraschung, kein Aufstöhnen, keine interessanten Plottwists. Nicht, weil man es schon vorhin erkennen würde, sondern weil es einfach nur blödsinnig ist - tut mir leid.
Zur Erläuterung nehme ich mir vor, die Auflösung an dieser Stelle zu spoilern (!)
-- Achtung, Spoiler! --
Bei einem Mann, der einer Frau nachstellt, sie aufsucht und Gefühle in etwas hineinprojiziert, was nicht existiert und Menschen aus dem Umfeld der Zielperson umbringt, da komme ich noch mit. Aber, dass dieser Mann darüber hinaus noch Menschen umbringt, mit denen er persönlich gar nichts zu tun hat und nur aus dem Grund umbringt, weil er in der Zeitung von einem Fall gelesen hat und plötzlich beschließt, sich die Täter vorzunehmen, da komme ich nicht mehr mit.
Dieses "Ich bringe die Figuren X, Y und Z jetzt auch mal schnell um, weil ich so sauer bin, was sie einem Adipösen angetan haben, falls ich gerade sonst nichts zu tun habe" konnte ich absolut nicht nachvollziehen. Ein Märtyrer von Übergewichtigen? Ernsthaft, jetzt?! Vor allem passt es dann nicht so ganz, dass ständig das gute Aussehen des Täters hervorgehoben wird, der stark abgenommen hat. Vom Mega-Adipösen zum Fitnessmodel und Adonis. Ja, ne, ist klar! Hier haben wir wieder diesen Klischeemakel "Dicke sind unansehnlich und werden gemobbt" und dann der extreme Ausgleich "Jetzt, wo er abgenommen hat und trainieren war, ist er der beruflich erfolgreiche Frauenschwarm." Arrgh!!! Ich habe mich gefragt, ob das anatomisch überhaupt möglich ist.
Außerdem verstehe ich nicht, wieso der Täter, der sich über das ganze Buch hindurch noch ganz erwachsen und vernünftig gegeben hat, im Showdown sich plötzlich so furchtbar dämlich und unbeholfen verhält.
Und wieso bringt er die Polizeichefin im Kühlraum nicht einfach um, anstatt sie provokant überleben zu lassen? Warum bringt ein Täter 8 Menschen (!) um, von denen manche nicht einmal mit seiner Story zu tun haben, aber eine schwierige Gegnerin lässt er überleben, damit er auch ja gefunden wird?
Bringt es eigentlich überhaupt etwas, solche Fragen bei einem Charlotte Link Roman zu stellen? Ihre gut aufbereiteten, ins Endlose aufgezogenen Stränge zu einem vernünftigen, klugen und raffinierten Schluss münden zu lassen, war jetzt nie ihre große Stärke.
-- Spoiler Ende! --
Schließlich endet das Buch mit einem offenen, aber unnötig unruhigem Ende. Es wirkt ein bisschen unfertig. Es schreit eigentlich nach einer Fortsetzung. Muss es auch, denn der Fall wirkt abprubt beendet, es wird nichts ausdiskutiert und man weiß auch nicht, was jetzt passiert. Ich bin mir sicher, dass es noch einen 5. Teil geben wird.
Ich feiere Charlotte Link und sie ist nicht umsonst die meistverkaufte deutsche Autorin der Gegenwart. Ganze 33 Millionen Bücher soll sie verkauft haben und sie scheint noch ganz die Alte zu sein. Wahnsinnig tolle Karriere und Werke wie "Der Beobachter" oder "Im Tal des Fuchses" sind Meisterwerke im Bereich Kriminalroman.
Doch manchmal fragt man sich, ob sie einfach immer einem altbewährten Muster zurückgreift, nach dem Motto: Never change a running system oder ob sie ihre Romane eigentlich selbst am Ende durchliest oder lesen lässt oder ob ihr jemand sagt: Du, hör Mal, das müsste man vielleicht umschreiben? Oder: Streich mal so 150 Seiten weg, das interessiert den Leser nicht?
Fragen über Fragen.
Puh! Jetzt habe ich mich etwas in Rage geschrieben. Mir hängt wahrscheinlich der hohe Buchpreis noch im Nacken. Natürlich ändert diese aufgeladene Rezension nichts daran, dass Charlotte Link eine gute Schriftstellerin ist und Krimi kann. Das hat sie mit anderen Werken bewiesen. Zumindest bin ich jetzt entschlossener, die Linville-Reihe von Anfang an zu beginnen - und wenn es nur wegen der Protagonistin ist, die ich ja sehr mag.