Am höchsten bewertete positive Rezension
4,0 von 5 SternenNesbø kann mehr
Kundenrezension aus Deutschland 🇩🇪 am 29. November 2022
In Kürze: solides Handwerk eines großen Könners, ordentlicher, etwas brutaler Krimi rund um den zunehmend auch als Romanfigur etwas zu ausgezehrt und auserzählt wirkenden Harry Hole. Der vierte Stern wurde entweder ab Seite 350 verdient oder ist ein "Nesbø-Liebhaber"-Stern. Andere KriminalautorInnen und Nesbø selbst machen ein derart großes Konkurrenzfeld auf, dass hier eigentlich 3 Sterne angebrachter wären.
Ausführlicher: nach dem Tod seiner Ehefrau und eines seiner besten Freundes Björn Holm, ist Harry Hole mal wieder geflüchtet. Er hält sich in Los Angeles auf. Dort lernt er eine ältere Frau kennen, mit der er Freundschaft schließt. Die Dame steckt in großen Schwierigkeiten und wird bedroht, kurzfristig kann Harry sie aus dieser Not befreien, aber schlussendlich würde ihr nur etwas helfen, was Harry ihr in dieser Menge nicht bieten kann: Geld. Da ereilt ihn aus Oslo ein Anruf. Ein Immobilienmogul wird des Mordes verdächtigt und traut der Polizei nicht zu, seine Unschuld zu beweisen. Daher engagiert er den vermeintlich besten Kriminalermittler Norwegens privatdetektivisch für ihn den Mörder zu finden. Harry stellt extrem hohe Forderungen, nimmt den Auftrag aber an. Er stellt sich ein Team aus Freunden und früheren Feinden zusammen, die die Fährte des Mörders aufnehmen, dessen Weg mehrere grausam entstellte Frauenleichen aus dem Umfeld des verdächtigen Immobilienmagnaten pflastern.
Auf die Harry-Hole-Reihe wurde ich 2009 von einem damaligen Arbeitskollegen aufmerksam gemacht. Außer der Macbeth-Adaption und den Kinderbüchern aus der Feder dieses Autors habe ich tatsächlich all seine Werke gelesen. Die Hole-Reihe fing meiner Meinung nach mit "Der Fledermausmann" und "Kakerlaken" mittelmäßig an, fand mit "Rotkehlchen" für mich ihren absoluten Höhepunkt, fiel dann wieder leicht ab und bot mit "Der Erlöser", "Schneemann" und "Leopard" dann sehr hohes Niveau, "Die Larve", aber vor allem "Koma" machten mich zunehmend skeptisch, ob die Reihe nicht so langsam ihren Zenit überschritten hat. "Durst" fand ich wieder etwas besser, aber sowohl "Messer" als auch jetzt "Blutmond" sind für mich eher Krimis, die ich lese, weil ich zu Harry Hole und seinem Umfeld fast schon eine Art pseudofamiliäres Verhältnis habe und mich interessiert, wie es weiter geht. Insofern hoffe ich, dass Harry Hole zurückkommt, glaube aber das mit dem Ziel gleichbleibender Qualität so langsam die Frage danach, wie Jo Nesbø den Abschied von Harry Hole gestalten kann, relevant wird.
Was macht "Blutmond" so fragwürdig? Versuche ich mir vorzustellen, wie es wäre, diesen Roman zu lesen ohne die Vorkenntnisse, wäre ich vermutlich von den vielen Remineszenzen an vorangegangene Romane ein wenig gelangweilt oder würde mich ärgern, diese noch nicht gelesen zu haben (12 Bände Vorgeschichte ist schon "ein Brett"). Als jemand, der sie gelesen hat, aber nicht jedes Detail präsent hat, bin ich zwar froh um diese Erinnerungen, gleichzeitig kommt einfach immer mehr das Gefühl auf, dass das Tableau irgendwie leer gefegt ist. Mit dem Tod von Ehefrau Rakel wirkt Harry Hole endgültig irgendwie deplatziert auf der Welt, was zwar einerseits zum Charakter und Lebensstil dieser Figur dazu gehört und von Anfang an so war, aber mittlerweile sich zu einer mir zumindest für das emotional Mitfühlen tendenziell schwer machende Ödnis ausgewachsen hat ("Ödnis" hier nicht als Synonym für Langeweile, sondern für Schwere gemeint).
Dann ist "Blutmond" als Thriller sicher solide gemacht, aber mittlerweile sind die klassischen Nesbø-Wendungen mir dann doch so sehr vertraut, dass viele Überraschungseffekte verpuffen. Bis ungefähr zur Mitte, vielleicht sogar bis ungefähr Seite 350 dachte ich, hier wirklich ein misslungenes Buch zu lesen. Die eine oder andere Finte trägt dann doch noch zur Spannung bei, weswegen ich den Band am Ende doch noch befriedigt weggelegt habe.
Über die Fragwürdigkeiten sowohl hinsichtlich der Motivation des Täters als auch über den Realitätsgehalt der Taten, kann man ewig streiten, wobei ich diese Debatten mittlerweile tendenziell für überschätzt halte. Krimi-AutorInnen wie z.B. Sebastian Fitzek, aber auch über Kriminalfälle berichtenden JournalstInnen wissen häufig davon zu erzählen, dass tatsächlich stattgefundene schwere Straftaten manchmal hinsichtlich Motivation und Durchführung, aber auch hinsichtlich Ermittlungserfolge und -pannen deutlich unglaubwürdiger klingen als man es Tatort-Drehbuch-AutorInnen oder KriminalschrifststellerInnen durchgehen lassen würde. Insofern ist der bis ins letzte Detail schlüssige Krimi eben bis zu einem gewissen Grad genau deswegen unrealistisch. Vor dem Hintergrund kann ich die Story halbwegs "abkaufen", dass ein wesentlicher biotechnischer Aspekt mutmaßlich so nicht funktionieren kann, sondern mehr ein "theoretisch möglich" in die fiktive Tat umgesetzt wurde, ist dem Autor nicht vorzuwerfen. Bis ins letzte durchdachte und durchführbare Taten in Romanen zu präsentieren wäre ja als Anleitung für potenzielle TäterInnen gefährlich bzw. würde umgekehrt vielleicht auch Ermittlungserfolge der realen KriPo gefährden.
Zum Aspekt der Gewalt: Hole-Krimis waren nie die relativ zahmen, eher soziologisch-psychologisch angelegten Romane wie z.B. die von Hakan Nesser und sowieso nie als Pseudokammerspiel der Marke "Der Richter und sein Henker" gedacht. Dennoch habe ich das Ausmaß an Brutalität in dieser Geschichte als eine Spur zu heftig empfunden und kann dieses Mal zumindest ein klein wenig verstehen, wenn der ärmste, zum lesen dieses Bestsellers vermutlich wieder verurteilte Denis Scheck seine übliche Tirade gegen die "Gewaltpornographie" auspackt und Lesende wie mich, die Nesbø "lieben" des schlechten Geschmacks zeiht (überführt?).
Vielleicht bin ich aber mittlerweile auch ein bisschen zu verwöhnt, motiviert durch eine Empfehlung einer Stimme auf deren Meinung ich viel gebe, habe ich dieses Jahr einen zweiten Anlauf mit Nesbøs "Blood-on Snow"-Reihe unternommen und fand insbesondere den zweiten Band ("Das Versteck") extrem gut. Auch "Der Sohn" fand ich ganz hervorragend und die unter der Überschrift "Eifersucht" kürzlich erschienen Kurzgeschichten zeigten eine andere Seite Nesbøs, die nicht ganz einfach zu beschreiben ist, die ich aber in der Hole-Reihe mittlerweile vermisse. Dieser Autor kann mehr.
[In memoriam HFK - RiP]